Was passiert aber mit uns Menschen, wenn diese gesunde, natürliche Regulation des Denkens über unsere Emotionen aus dem Gleichgewicht gerät? Dann geht die Aufmerksamkeit zu sehr ins Denken und der Mensch fühlt sich immer mehr von seinem echten Gefühl abgetrennt. Dann überlagert das Denken die Gefühle und es kommt bei vielen Menschen zu einer rein analytischen Beschreibung ihrer Gefühle. Das echte und authentische Gefühl wird quasi durch den Verstand entschärft, weil es als zu bedrohlich wahrgenommen wird. Wodurch entsteht dieses Ungleichgewicht?
Aus unserer Sicht gibt es zwei wesentliche Gründe, die maßgeblich zu einer Störung des Gleichgewichtes von Denken und Fühlen führen:
<ul>
<li>Traumatisierungen im Allgemeinen, z.B. fehlende Empathie der Eltern, Missachtung, Gewalt</li>
<li>Überbetonung des Verstandes durch gesellschaftliche Konditionierungen</li>
</ul>
In beiden Fällen kommt es zu einer Überbetonung des Verstandes und zu einer Abspaltung der Gefühle. Ein Trauma ist eine emotionale Wunde, die den Menschen dazu zwingt, sich schützen zu müssen. Er hat gar keine andere Wahl und es ist der erste naheliegende Bewältigungsmechanismus, der uns Menschen zur Verfügung steht. Das Thema Traumatisierung ist so grundlegend und tiefgehend, dass wir uns in der Ausbildung immer wieder damit beschäftigen werden. An dieser Stelle sei erst mal so viel gesagt, dass traumatische Erfahrungen viele Menschen dazu zwingen ihre Aufmerksamkeit zum größten Teil in den Verstand zu verlagern. Umgangssprachlich sagen wir auch dazu, dass dieser Mensch sich im Kopf befindet.
Im zweiten Falle lernen wir Menschen durch gesellschaftliche Ansprüche und Erwartungen, dass von uns gefordert wird, die Aufmerksamkeit in den Verstand zu verlagern. In unserer von Konkurrenz und Leistung dominierten Gesellschaft kann man sich Gefühle nicht erlauben und schon gar keine Schwächen. Sprüche wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Augen zu und durch“ wirken in unserer heutigen Zeit fast schon harmlos und lächerlich, aber sie haben mehrere Generationen symptomatisch geprägt. Es ist also die gesellschaftliche Prägung und Anforderung, die uns zu „Kopfmenschen“ heranwachsen lässt.
Daher sind in unserer westlichen Kultur viele Menschen von ihren körperlichen Empfindungen und Gefühlen abgeschnitten und führen eine meist oberflächliche emotionale Beziehung zu sich selbst und anderen. Gedrängt durch die leistungsorientierte Konsumgesellschaft, richten sie ihre Aufmerksamkeit auf das sichere und erfolgsorientierte Vorankommen in der äußeren Welt und haben kaum noch Kontakt zu ihrer Innenwelt. Die äußeren Lebensumstände werden zum Maß aller Dinge und bestimmen die Beziehungsgestaltung zu sich selbst und anderen. Viele Menschen sind unglücklich und unzufrieden und wissen selbst oft gar nicht warum. Sie führen ein sinnentleertes, roboterhaftes, leistungs- und konsumorientiertes Leben, weil sie den Kontakt zu ihrem Innersten und ihren Gefühlen verloren haben. Nähe und Intimität zu anderen Menschen ist mit großen Ängsten verbunden, was dazu führt, dass ihr Verhalten überwiegend von Fluchttendenzen bestimmt wird.
Der Psychoanalytiker und Gesellschaftskritiker <strong>Arno Gruen</strong> schreibt in seinem Buch <strong>„Dem Leben entfremdet“</strong> über die grundlegende Problematik, wie wir Menschen in unserer Kultur schon bereits in frühester Kindheit von unserer natürlichen Empathie abgeschnitten werden. Dieses Buch beschreibt die Problematik unserer Kultur mit Fallbeispielen und einer sehr klaren Sicht.
Durch die fehlende Empathie der Eltern wird das Gefühlsleben bei vielen Menschen schon ab der Geburt verkümmert und eine schützende Machtposition erst gegenüber den Eltern und danach auch gegenüber anderen Menschen und der Umwelt muss dadurch zwangsweise eingenommen werden.